Über die Geistigen und Strukturellen Voraussetzungen der Europäischen Einheit

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Übersetzt aus dem italienischen Original: “Sui presupposti spirituali e strutturali dell’unità europea.” Veröffentlicht in: Filippo Anfuso (Hrsg.): “Europa Nazione.” Rivista Mensile, Rom. 1. Jahrgang, Nr. 1, Januar 1951, Seiten 48–54.

Durch die Macht der Gegebenheiten ist heute auf unserem Kontinent das Verlangen nach europäischer Einheit lebendig geworden. Bisher sind es vor allem negative Umstände, die ihm Nahrung geben: Daß man sich zur Verteidigung zusammenschließen will, und zwar nicht so sehr aus einer Regung heraus, die von etwas Positivem und dem Bestehenden ausgeht, sondern weil man beinahe keine andere Wahl hat angesichts des bedrohlichen Drucks der nichteuropäischen Blöcke und Interessen. Dieser Umstand führt dazu, daß über die innere Gestaltung einer wahren europäischen Einheit nicht allzu klargesehen wird.

Bis heute scheint es, daß man über das Vorhaben eines Bündnisses oder eines Staatenbundes nicht allzu weit hinausgeht, was an sich statt eines organischen immer einen äußerlichen, zusammengewürfelten und somit eher willkürlichen Wesenszug hat.

Eine Einheit, die wirklich organisch wäre, könnte man sich jedoch nur auf der Grundlage einer Gestaltungskraft aus dem Innern und von Oben her denken, wie sie einer Idee, einer gemeinsamen Kultur und Überlieferung zu eigen ist. Will man die europäische Frage mit diesen Begrifflichkeiten angehen, so wird es für jedermann ersichtlich, wie unangenehm die Lage ist, wieviele schwierige Umstände uns daran hindern, in leichtfertigen Optimismus zu verfallen.

Es mangelt nicht an Menschen, die auf diese Gesichtspunkte der europäischen Frage aufmerksam gemacht haben. Ein in dieser Hinsicht bedeutsames Werk ist das von U. Varange mit dem Titel “Imperium” (Westropa Press, London, 1948, 2 Bände).[1] Von ihm ausgehend ist es möglich, eine eingehendere Untersuchung der eben genannten Schwierigkeiten vorzunehmen.

Varange möchte allerdings die These der europäischen Einheit nicht mit rein politischen Begrifflichkeiten verfechten; dazu geht er von einer allgemeinen Geschichts- und Kulturphilosophie aus, die auf Oswald Spengler aufbaut. Die Spenglersche Auffassung ist bekannt: Es gibt keine geradlinige Entwicklung von Kultur im Einzelnen, die Geschichte zerbricht sie in verschiedene, jedoch nebeneinanderher bestehende Kulturkreisläufe, die jeweils einen Organismus bilden und als Organismen die ihnen eigentümlichen Phasen von Jugend, Entwicklung, Alter und Niedergang haben.

Insbesondere unterscheidet Spengler in jedem Kreislauf eine Periode der “Kultur” von einer Periode der “Zivilisation”. Die erstere ist an den Ursprüngen zu finden, steht unter dem Zeichen von Wertigkeit und kennt Gestalt, Vielfältigkeit, völkischen Ausdruck und lebendige Überlieferung; dem gegenüber ist die “Zivilisation” die Herbst- und Dämmerphase, in der sich das Zerstörungswerk des Materialismus und des Rationalismus vollzieht und man sich in Richtung Mechanizismus und formenloser Größe bewegt, in Richtung der Herrschaft der reinen Menge. Laut Spengler treten solche Erscheinungen unvermeidlich in jedem Zivilisationskreislauf auf. Sie sind biologisch bedingt. Soweit Spengler.

Varange folgt ihm, und er folgt ihm auch darin, die europäische Welt als einen jener Kulturorganismen zu betrachten, der mit seinem eigenen Leben ausgestattet ist, eine eigene Ideenwelt entwickelt und einem eigenen Schicksal folgt. Darüber hinaus folgt er ihm in dem Befund, daß die Phase des Kreislaufes, in der sich Europa und das Abendland derzeit befinden, die der “Zivilisation” ist.

Doch im Unterschied zu Spengler, der zumindest anfänglich in diesem Zusammenhang den bekannten Ausdruck vom “Untergang des Abendlandes” eingeführt hatte, versucht er, das Negative ins Positive zu wenden, gute Miene im Angesicht des Verhängnisses zu machen und von neuen Kräften zu sprechen, die einem Gebot der Wiedergeburt und Werten folgen würden, die sich nicht auf Materialismus und Rationalismus reduzieren lassen. Der Fortgang des Kreislaufes würde Europa aus den Trümmern der Welt von gestern und der Kultur des 19. Jahrhunderts in ein neues Zeitalter stoßen, das Zeitalter der “absoluten Politik”, der Übernationalität und der Autorität, also das des “Imperiums”. Im Zeitalter der Zivilisation diesem biologischen Gebot zu folgen oder unterzugehen, wäre die Wahl für Europa an sich.

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Nach diesem Gedankengang würden im günstigsten Fall nicht nur das wissenschaftsgläubige und materialistische Weltbild der Vergangenheit angehören, sondern auch Liberalismus und Demokratie, Kommunismus und UNO, pluralistische Staatswesen und nationalistischer Partikularismus. Das geschichtliche Gebot wäre, Europa als eine Einheit von Nation–Kultur–Volkstum–Staat zu verwirklichen, die sich eng an ein Wiederaufleben des Grundsatzes der Autorität und eine neue, genaue, biologische Unterscheidung zwischen Freund und Feind, zwischen der eigenen Welt und der fremden, “barbarischen” Welt hält.

Da es für unsere Zwecke von Nutzen ist, wollen wir auf das eingehen, was Varange “Kulturpathologie” nennt. Die Umsetzung der inneren und natürlichen Gesetzmäßigkeiten eines Kulturorganismus kann durch Verzerrungsvorgänge (Culture-distortion) behindert werden, wenn fremde Elemente in seinem Innern seine Kräfte auf Handlungen und Ziele hinlenken, die nichts mit seinen wirklichen und lebenswichtigen Bedürfnissen zu tun haben und stattdessen das Spiel äußerer Kräfte betreiben.

Dies kann auf dem Gebiet des Krieges unmittelbare Anwendung finden, wobei laut Varange die wirkliche Wahl nicht die zwischen Krieg und Frieden ist, sondern zwischen Kriegen, die für eine Kultur nützlich und notwendig sind, und Kriegen, die diese Kultur entstellen und zersetzen. Das zweite ist der Fall, wenn man nicht gegen einen wirklichen Feind ins Feld zieht, der den eigenen materiellen und geistigen Kulturorganismus biologisch gefährdet – in diesem Fall ist nur ein “totaler Krieg” denkbar –, sondern wenn ein solcher Krieg im Innern einer Kultur ausbricht, wie es dem Abendland in den beiden letzten Feuerstürmen tatsächlich widerfahren ist.

In diesen zogen die Führer der Nationen eher die Zerstörung Europas und die verhängnisvolle Unterwerfung ihrer Vaterländer unter die fremden und “barbarischen” Völker aus Ost und West vor, als in einem neuen Europa zusammenzuarbeiten, das die Welt des 19. Jahrhunderts überwinden und sich unter den neuen Sinnbildern von Autorität und Gemeinschaftssinn umgestalten würde. Die verhängnisvolle und nunmehr deutlich sichtbare Folge war nicht der Sieg einiger europäischer Nationen über andere, sondern der der Europa-Feinde aus Asien und Amerika über Europa als Ganzes.

Diese Anklage trifft in besonderer Weise England, wird aber von Varange auch auf die Vereinigten Staaten von Amerika ausgedehnt, da er der Ansicht ist, daß sich die ganze interventionistische Politik der Vereinigten Staaten als Folge einer “Kulturverzerrung” entwickelt hat, die auf Ziele gerichtet ist, die in keinem organischen Zusammenhang mit lebenswichtigen nationalen Erfordernissen stehen.

Nach dem Stand der Dinge beschleunigt sich das Tempo, und für das Abendland geht es darum, das biologischen Gebot, das der gegenwärtigen Phase seines Kreislaufes entspricht, anzuerkennen oder nicht: Die Aufspaltung in Einzelstaaten zu überwinden und die Einheit des europäischen Nationalstaates zu schaffen, indem man einen Block gegen die Europa-Feinde bildet.

Die Aufgabe wird zunächst innerlicher und geistiger Art sein. Europa muss die Verräter, die Schmarotzer, die “Verzerrer” loswerden. Es ist erforderlich, daß sich die europäische Kultur von den Überresten materialistischer, ökonomistischer, egalitärer und rationalistischer Vorstellungen des 19. Jahrhunderts entgiftet.

In einer zweiten Stufe wird die zu einer Gemeinschaft oder Kultur erneuerte Einheit Europas ihren Ausdruck in einer entsprechenden politischen Einheit finden müssen, die auch um den Preis von Bürgerkriegen und Kämpfen gegen die Mächte, die Europa unter ihrer Kontrolle halten wollen, angestrebt werden muss. Staatenbünde, Zollgemeinschaften und sonstige wirtschaftliche Maßnahmen können keine Lösungen darstellen; die Einheit muss aus einem inneren Gebot erstehen, einem Gebot, das auch dann verwirklicht werden muss, wenn es wirtschaftlich nachteilig erscheint, da der wirtschaftliche Gesichtspunkt im neuen Zeitalter nicht mehr als oberste Instanz zu gelten hat.

In einer dritten Stufe könnte sich dann die Frage des nötigen Raumes für den Bevölkerungsüberschuss der europäischen Nation stellen, wofür Varange als beste Lösung einen Abfluss nach Osten ansieht, wo sich unter kommunistischer Maske die Kräfte derjenigen Volkstümer sammeln und organisieren, die geschichtlich und biologisch Feinde der abendländischen Kultur sind.

Für unsere Zwecke ist dies erst einmal genug von Varange. Lassen Sie uns nunmehr darüber nachsinnen.

Das zugrundeliegende Bild, auf das Varange sich beruft, ist das des “Imperiums” und eines neuen Grundsatzes der Autorität. Allerdings glauben wir nicht, daß er sich über all das im Klaren ist, was ein derartiges Bild beinhaltet, wenn es so zur Anwendung kommt, wie es eben angewendet werden muss; er erkennt nicht den bestehenden Widerspruch zu all dem, was zur Spätphase der “Zivilisation” einer Kultur gehört, in unserem Fall der europäischen.

Unserer Meinung nach ist Varange ohne weiteres darin zu folgen, wenn er die Unzulänglichkeit jeder bundesstaatlichen und bloß wirtschaftlichen Lösung der europäischen Frage anprangert. Wie wir bereits sagten, kann eine wahre Einheit nur organischer Art sein, und das Muster dafür ist wohlbekannt, es ist jenes, wie es sich beispielhaft bereits in der mittelalterlichen Glaubensgemeinschaft Europas verwirklicht hatte. Es beinhaltet sowohl Einheit als auch die Vielfalt und nimmt in einem System hierarchischer Teilhabe Gestalt an.

Um den Nationalismus als einer spalterischen Verabsolutierung des einzelnen Bestandteiles zu überwinden und hinter sich zu lassen, muss man von ihm zur natürlichen Auffassung von Nationalität übergehen (oder zurückkehren). Im Inneren des Raumes einer jeden Nation sollte sich dann – politisch – ein Eingliederungsvorgang vollziehen, der die Kräfte in einem hierarchischen Aufbau zusammenfasst und eine Ordnung festigt, die auf dem zentralen Grundsatz von Autorität und Souveränität beruht.

Dasselbe sollte sich dann in dem Raum wiederholen, der über den Nationen gelagert ist, im europäischen Raum im Allgemeinen, in dem wir die Nationen als organische Teileinheiten haben werden, die sich auf ein “unum quod non est pars”[2] ausrichten (um den Danteschen Ausdruck zu gebrauchen), das heißt auf den Grundsatz einer Autorität, die einer jeden von ihnen hierarchisch übergeordnet ist. Ein solchermaßen gearteter Grundsatz muss an sich schon notwendigerweise über den politischen Bereich im engeren Sinne hinausgehen, indem er seine Grundlage und Rechtmäßigkeit aus einer Idee, aus einer Überlieferung, eben auch aus einer geistigen Macht zieht.

Auf diese Weise erhielte man das “Imperium”, die organische und mannhafte europäische Einheit, die frei ist von allen gleichmacherischen, liberalistischen, demokratischen, chauvinistischen, kollektivistischen Ideologien und sich gerade dadurch in sorgfältiger Abstandswahrung sowohl vom “Osten” wie vom “Westen” darbietet, das heißt von den beiden Blöcken, die sich wie die Backen einer Zange um uns schließen.

Somit ist die Voraussetzung für eine solche mögliche Entwicklung nicht das Aufgehen der Nationen in einer einzigen Nation, einer Art von europäischem gesellschaftlichem Einheitsbrei, sondern die hierarchische Eingliederung jeder Nation. Wahre Einheit, nicht zusammengewürfelt, sondern organisch, wird nicht von unten her erreicht, sondern von der Spitze aus. Sobald die nationalistische Überheblichkeit gebrochen ist, die immer mit einem hetzerischen, grüppchenbildenden und spalterischen Moment einhergeht, und die einzelnen Nationen hierarchisch ausgerichtet sind, wird es die Möglichkeit einer Vereinigung geben, die über die Nationen hinausgehen und ihnen dennoch ihre natürliche Eigenart und Gestalt belassen kann. Somit wäre dann alles in Ordnung.

Schlecht ist nur, daß der natürliche Rahmen, um dies durchzuführen, der einer Welt ist, die sich in der Phase der “Kultur” befindet, und nicht der “Zivilisation” – um weiter die Spenglerschen Begrifflichkeiten zu verwenden.

Autoren wie Varange vermischen Dinge, die verschiedenen Ebenen angehören, und verfallen einem Denkfehler, in den seinerzeit selbst Mussolini geraten ist. Mussolini las, wohl ohne Spenglers Hauptwerk zu kennen, dessen “Jahre der Entscheidung”[3] und war beeindruckt von der Vorhersage eines neuen Cäsarismus oder Bonapartismus; deshalb wollte er auch, daß das Buch ins Italienische übersetzt wird.[4] Dabei war er sich jedoch nicht bewusst, wann laut Spengler solche Erscheinungen im Kreislauf der Kulturentwicklung auftreten: nämlich dann, wenn die Welt der Überlieferung zusammenbricht, wenn es keine Kultur mehr gibt, sondern nur noch Zivilisation, wenn die Bedeutung des Wertes gestürzt wurde und das formlose Element der “Masse” die Oberhand gewinnt; erst dann, in der Herbst- und Dämmerphase eines Kreislaufes, vergehen auch die Nationen, und die großen übernationalen Anhäufungen entstehen im Zeichen eines Pseudo-Cäsarismus, einer auf eine Person zugeschnittenen Macht, in sich gestaltlos, ohne höhere Weihe.

All das ist nur ein auf den Kopf gestelltes Zerrbild des “Imperiums” im überlieferten und wahrhaften Sinne; es ist kein Reich, sondern allenfalls “Imperialismus”, und stellt nach Spenglerscher Auffassung ein letztes Aufflackern dar, das vom Ende gefolgt wird – dem Ende einer Kultur, auf die auch eine neue, andere folgen kann, ohne eine durchgehende Verbindung mit der vorherigen.

Wenn Varange nun von dem neuen Zeitalter der “absoluten Politik” und von den Blöcken spricht, die, nachdem sie die Nationen derselben Kultur zu einem einzigen Organismus verschmolzen haben, als höchsten Maßstab den der unbedingt lebennotwendigen Unterscheidung von Feind und Freund (eine von Carl Schmitt[5] vertretene Ansicht, der mit diesen Begriffen das Wesen moderner rein politischer Einheiten bestimmt hatte) und das alleinige Gebot des Biologischen haben müssen, verharren wir gerade auf jener Ebene der “Zivilisation” und der “totalitären” Kollektivierungsvorgänge, die eher als subnational statt wirklich übernational zu beurteilen sind und deren getreueste und folgerichtigste Umsetzung sich heute in der Linie des Stalinismus finden lässt.

Nun ist es klar, daß, wenn sich eine Einheit Europas nur auf diese Weise verwirklichen ließe, das Abendland aufgrund seiner Stärke materiell und biologisch den nichteuropäischen imperialistischen Mächten wohl standhalten und sich behaupten könnte, damit aber gleichzeitig innerlich abdanken würde, womit Europa im eigentlichen Sinne, die europäischen Überlieferung am Ende wäre; es wäre auf der Ebene der Kämpfe in Ausübung eines rohen Daseins- und Machtwillens zum Abziehbild seiner Gegner geworden und würde nur darauf warten, daß die der technisch-mechanischen Kultur innewohnenden allgemeinen Zersetzungsfaktoren noch weiter durchschlagen. Dies ist mehr oder weniger die Vorhersage, die auch Burnham bei der Betrachtung der möglichen Ergebnisse dessen macht, was er als die sich vollziehende “managerial revolution[6] bezeichnet.

Welche anderen Aussichten stehen noch offen? Das ist nicht einfach zu sagen.

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Was die Nationen betrifft, so kann jede ihre Eigenart und Würde als organisches “Teil eines Ganzen”, indem sie sich einer höheren Ordnung unterordnet, nur unter den beiden bereits angedeuteten Bedingungen bewahren: entweder äußerlich und ohne innere Bindung in der Form, wie es mit Begriffen wie materielle Nützlichkeit und äußere Notwendigkeit umschrieben wird, oder indem sie eine wirklich überlegene Autorität unmittelbar anerkennt, die nicht bloß politisch ist und nicht von einer bestimmten Nation im Sinne eines “Hegemonismus” abhängt.

Wo nur einen Ansatzpunkt für das alles finden? Man spricht gerne von europäischer Überlieferung, von europäischer Kultur, von Europa als eigenständigem Organismus, wenn man jedoch die Dinge heute betrachtet und mit dem Maßstab absoluter Werte misst, sieht man leider, daß in all dem kaum mehr als Slogans enthalten sind und daß man sich mit einfachen Floskeln zufriedengibt.

Auf der obersten Ebene muss die Seele eines übernationalen europäischen Blocks religiös sein: religiös nicht in abgehobenem Sinne, sondern bezogen auf eine genau benannte und bejahende geistige Autorität. Nun gibt es, selbst wenn man die überzogenen und allumfassenden Säkularisierungs- und Laizisierungsmaßnahmen, die in Europa stattgefunden haben, außer Acht lässt, heute auf unserem Kontinent nichts dergleichen mehr. Der Katholizismus ist lediglich der Glaube einiger europäischer Nationen – und im Übrigen haben wir ja gesehen, wie in einer unvergleichlich günstigeren Zeit als der jetzigen, nämlich der nach Napoleon, die Heilige Allianz, mit der eben diese Idee eines überlieferungstreuen und mannhaften Zusammenhalts der europäischen Nationen aufkam, dies nur dem Namen nach war, dazu fehlte es ihr an wahrhafter, religiöser Weihe, einer universellen, erhabenen Idee. Wenn man dagegen nur allgemein von Christentum sprechen würde, wäre dies zu wenig, es wäre zu gestaltlos und formlos, nicht ausschließlich europäisch, nicht allein von der europäischen Kultur zu beanspruchen. Davon abgesehen können an der Vereinbarkeit des reinen Christentums mit einer “Metaphysik des Reiches” nur Zweifel aufkommen: dies lehrt die mittelalterliche Auseinandersetzung zwischen den beiden Gewalten, wenn man sie richtig versteht.

Verlassen wir nun diese Ebene und gehen über zur Ebene der Kultur. Kann man heute von einer gesonderten europäischen Kultur sprechen – oder besser: von einem Geist, der in seinen unterschiedlichen und doch gleichklingenden Äußerungen als Kultur der einzelnen europäischen Nationen einzigartig bleibt?

Erneut wäre es gewagt, dies bejahend zu beantworten, und der Grund wurde von C. Steding in einem bemerkenswerten Buch aufgezeigt, das gerade eben “Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur” behandelt.[7] Der Grund liegt darin, was der Verfasser die Neutralisierung der gegenwärtigen Kultur nennt: einer Kultur, die nicht länger einer gemeinsamen politischen Idee entspricht, einer “privaten” Kultur, flüchtig und doch kosmopolitisch, bindungslos, gegen das Aufbauende eingestellt, subjektivistisch, zudem neutral und aufgrund ihrer wissenschaftsgläubigen und positivistischen Seiten völlig gesichtslos. Dies alles einer “Kulturpathologie” zur Last zu legen, einem äußerlichen und vorübergehenden Werk der “Verzerrung” durch fremde Elemente, wie Varange es möchte, und nicht nur in Europa, sondern selbst in Amerika, zeugt von einer stark vereinfachenden Denkweise.

Wo ist überhaupt heute in der Phase der “Zivilisation” ein derart eigenständiger kultureller Ausgangspunkt zu finden, von dem aus wir uns ernsthaft des “Fremden”, des “Barbaren” erwehren können, und wie könnte sich dies im Fall früherer imperialer Räume vollzogen haben?

Man würde mit der Arbeit einer Entgiftung und Wiederherstellung sehr weit gehen müssen, um dorthin zu gelangen, denn wenn wir auch Teilbereiche der nordamerikanischen wie auch der russisch-bolschewistischen Kultur mit Recht als barbarisch und europafeindlich beurteilen können, so dürfen wir doch nicht aus dem Blick verlieren, daß die einen wie die anderen die ins Äußerste getriebene Entwicklung von Tendenzen und Übeln darstellen, die sich zuerst in Europa zeigten. Genau darin liegt die mangelnde Immunität ihnen gegenüber begründet.

Schlussendlich verfällt man inmitten des ganzen heutigen Niedergangs auch in Bezug auf die “Überlieferung” einem Denkfehler. Schon seit einiger Zeit hat das Abendland nicht mehr gewusst, was “Überlieferung” im höchsten Sinne ist, überlieferungsfeindlicher Geist und abendländischer Geist waren bereits seit dem Zeitalter der Renaissance ein und dasselbe.

Die “Überlieferung” im umfassenden Sinne ist ein Begriff, der jenen Zeiten angehört, die ein Vico das “heroische Zeitalter”[8] nennen würde, in dem sich eine einheitliche, gestaltende Kraft mit metaphysischen Wurzeln sowohl in Brauchtum wie in Religionsausübung, im Recht, in den Überlieferungen, in Kunstschöpfungen, kurz, in jedem einzelnen Daseinsbereich äußerte. Wo können wir heute ein Überleben der Überlieferung in diesem Sinne feststellen? Und insbesondere als europäische Überlieferung, als große, einhellige, und nicht ländlich-folkloristische Überlieferung? Es war nur im Sinne des gleichmacherischen “Totalitarismus”, daß sich jemals Tendenzen zu einer vollkommenen politisch-kulturellen Einheit gezeigt haben.

Eindeutig hat die “europäische Überlieferung” als Kultur derzeit nur die privaten und mehr oder weniger unterschiedlichen Auslegungen durch Mode-Intellektuelle und -literaten zum Inhalt: davon haben gestern die “Volta-Kongresse” und heutzutage verschiedene Initiativen gleicher Art hinreichende und sicher nicht erbauliche Zeugnisse geliefert.

Aus dieser und anderen Überlegungen der gleichen Art kommen wir zu einer einzigen grundlegenden Schlussfolgerung: eine übernationale Einheit mit positiven und organischen Merkmalen ist in einer Phase der “Zivilisation” nicht denkbar. In einer solchen Phase ist allerhöchstens die Verschmelzung der Nationen zu einem mehr oder weniger gestaltlosen Machtblock denkbar, in dem der Grundsatz des Politischen die oberste Instanz ist und der sich alle moralischen und geistigen Teilbereiche unterwirft: entweder als “tellurische” Welt der “Weltrevolution” (Keyserling)[9] oder als Welt der “absoluten Politik” im Zeichen eines biologischen Gebotes (Varange) oder neuer totalitärer Komplexe in den Händen von Managern (Burnham), wie von vielen bereits vorausgeahnt. Einheit im Dienst der “Überlieferung” ist etwas ganz anderes.

Müssen wir also unsere Bilanz negativ abschließen und uns mit einer bescheideneren, föderalistischeren, “sozialeren” oder mehr an der Gesellschaft orientierten Idee zufriedengeben? Das ist nicht unbedingt gesagt, denn sobald die Antithese einmal aufgestellt ist, reicht es aus, sich entsprechend danach zu richten.

Wenn es widersinnig ist, unsere höchsten Wertvorstellungen im Rahmen einer “Zivilisation” anzustreben, weil daraus folgen würde, daß sie verzerrt und fast auf den Kopf gestellt werden, bleibt uns zur Überwindung dessen, was das Wesen einer “Zivilisation” ausmacht, nichts anderes übrig, als uns über die Voraussetzungen für jeglichen Anstoß zu einem wirklichen Wiederaufbau klar zu werden. “Zivilisation” bedeutet mehr oder weniger dasselbe wie “moderne Welt”, und wenn man sich nichts vormachen will, muss man zugeben, daß für die “moderne Welt” mit ihrem Materialismus, ihrem Ökonomismus, ihrem Rationalismus und all den anderen Auflösungs- und Zersetzungserscheinungen gerade das Abendland – wir können auch Europa sagen – hauptverantwortlich ist.

Als Erstes müsste daher eine Erneuerung stattfinden, die die geistige Ebene prägt, indem sie neue Formen des Feingefühls und des Interesses weckt und damit auch einen neuen inneren Stil, eine grundlegende einheitliche Neuausrichtung des Geistes. In diesem Zusammenhang muss man sich darüber im Klaren sein, daß es nicht darum geht, lediglich die Lebensauffassung des neunzehnten Jahrhunderts in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu überwinden, wie Varange es will, da diese Auffassung selbst die Auswirkung weiter zurückliegender Ursachen ist.

Als Nächstes müssen gegenüber Spenglers biologistischer Deutung von Kultur eindeutige Vorbehalte angemeldet werden, vor allem dürfen wir nicht, so wie der Autor, mit dem wir uns hier befassen, an einen gleichsam unvermeidlichen Wiederaufstieg glauben, der sich durch verschiedene Anzeichen ankündige. Daher sollte man sich auch nicht übermäßig auf die Ideen von gestrigen Revolutions- und Erneuerungsbewegungen stützen, aufgrund der Tatsache, daß in ihnen unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche Tendenzen vorhanden waren, die sich nur dann zum Positiven hätten ausgestalten können, wenn die Umstände ihnen eine vollständige Entwicklung möglich gemacht hätten, was von der militärischen Niederlage unterbrochen worden ist.

Jedenfalls scheint uns politisch die Krise des Grundsatzes der Autorität aber die größte Schwierigkeit darzustellen – wir reden, das sei noch einmal gesagt, von Autorität im wahren Sinne, die nicht nur durch Gehorsam, sondern auch durch natürliche Bindung und unmittelbare Anerkennung bestimmt ist, denn nur eine solche Autorität kann bewirken, daß im Innern einer Nation insbesondere der “Sozialismus” überwunden wird und in einem europaweiten Bereich nationalistischer Hochmut, “heiliger Stolz” und Versteifung auf den Grundsatz einzelstaatlicher Souveränität auf anderem Wege abgebaut werden als dem von Sachzwängen oder den Interessen der Wirtschaftslage.

Wenn es etwas gibt, das der arisch-abendländischen Überlieferung wesenseigen ist, dann ist es der von sich aus erfolgende freiwillige Zusammenschluss freier Männer, die stolz darauf sind, einem solchen wahrhaftigen Führer zu dienen. Für eine wahre europäische Einheit können wir uns nichts anderes vorstellen, als daß sich ein solcher Umstand auf seine ihm eigene “heroische” Weise im Großen wiederholt, statt in Form eines “Parlamentes” oder in Nachbildung einer Aktiengesellschaft.

Daraus geht ziemlich klar der Irrtum derer hervor, die sich hinsichtlich des Europa-Gedankens einer Art politischem Agnostizismus hingeben und ihn so auf eine Art von gestaltlosem gemeinsamem Nenner reduzieren: Es braucht einen Kristallisationspunkt, und die Form des Ganzen kann sich nur in der seiner Teile wiederspiegeln. Vor einem Hintergrund, der nicht derjenige von “Zivilisation”, sondern derjenige der Überlieferung ist, kann diese Form nur die organisch-hierarchische sein. Zu einer übernationalen Einheit gelangt man, wenn in den einzelnen, das heißt nationalen Teilbereichen eine Eingliederung in diesem Sinne erfolgt.

Die Tatsache, daß heute vielfältige äußere Umstände für uns spürbar werden lassen, daß für Europa die Bildung eines Blockes eine Frage von Leben oder Tod ist, muss notwendigerweise wiederum zum Erkennen der bereits erwähnten zweifachen inneren Fragestellung führen, die gelöst werden muss, um einem etwaigen europäischen Lager eine feste Grundlage zu geben: Auf der einen Seite ist es die Frage der schrittweisen und wirksamen Überwindung all dessen, was mit einem Zeitalter der “Zivilisation” zusammenhängt; auf der anderen ist es die Frage einer Art von “Metaphysik”, mit der eine sowohl nationale als auch übernationale und europäische Idee der reinen Autorität begründet werden kann.

Diese doppelte Fragestellung führt uns zurück zu einem doppelten Gebot. Man wird sehen, was für Männer heute noch inmitten so vieler Ruinen aufrecht stehen, die dieses Gebot verstehen und annehmen.

Fußnoten

[1] Ulick Varange (Pseudonym für Francis Parker Yockey): “Imperium.” Zwei Bände; Westropa Press, London 1948. Um ein Viertel gekürzte deutsche Übersetzung von Ursula von Gordon: “Chaos oder Imperium. Das Abendland zwischen Untergang und Neubeginn.” Grabert Verlag, Tübingen 1976. Eine italienische Ausgabe liegt bislang nicht vor.

[2] “Cum ergo duplex ordo reperiatur in rebus, ordo scilicet partium inter se, et ordo partium ad aliquod unum quod non est pars.” (“So findet sich also in den Dingen eine doppelte Ordnung: die eine betrifft die Ordnung der Teile untereinander, die andere betrifft ihre Hinordnung auf eine Einheit, die nicht ein Bestandteil ist.”) Dante Alighieri: “De Monarchia.” 1. Buch, 6. Kapitel (Deutsche Übersetzung von Constantin Sauter: “Dantes Monarchie.” Herdersche Verlagsbuchhandlung, Freiburg 1913, Seite 96).

[3] Oswald Spengler: “Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung.” C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1933.

[4] Oswald Spengler: “Anni decisivi.” Ins Italienische übersetzt von Vittorio Beonio Brocchieri. Valentino Bompiani, Mailand 1934.

[5] Carl Schmitt: “Der Begriff des Politischen.” In: Emil Lederer (Hrsg.): “Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.” Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Mohr), Tübingen. 58. Jahrgang, Nr. 1, 1927, Seiten 1–33. Erweiterte Buchausgabe: Verlag von Duncker & Humblot, München–Leipzig 1932. Eine italienische Ausgabe, “Le categori del politico”, erschien erst 1972.

[6] James Burnham: “The Managerial Revolution.” John Day Company, New York 1941 (Deutsche Übersetzung von Helmut Lindemann: “Das Regime der Manager.” Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1951; die italienische Ausgabe “La rivoluzione dei tecnici” war 1946 erschienen).

[7] Christoph Steding: “Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur.” Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1938.

[8] Giambattista Vico:  “Principi di Scienza Nuova d’intorno alla commune Natura delle Nazioni.” Felice Mosca, Neapel 1725 (Deutsche Übersetzung von Wilhelm Ernst Weber: “Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker.” F. A. Brockhaus, Leipzig 1822).

[9] Hermann Keyserling: “La révolution mondiale et la responsabilité de l’esprit.” Librairie Stock, Paris 1934 (nicht auf Deutsch erschienen).